Von: Stefan Patzer und Dr. Christian Steger
Aktuell beschäftigen neben den „Dieselklagen“ auch tausende von lebensversicherungsrechtlichen „Widerspruchsfällen“ die deutschen Gerichte. Auslöser dieser Klagewelle war eine EuGH-Entscheidung aus dem Jahr 2013, in der die Möglichkeiten von Versicherungsnehmern, ihr Widerspruchsrecht auch noch Jahre nach Vertragsschluss ausüben zu können, deutlich ausgeweitet wurden. Deutsche Gerichte – allen voran der BGH – haben diese Vorgaben sehr streng interpretiert und in ein „ewiges Widerspruchsrecht“ umgesetzt.
In zwei nur beiläufig beachteten Entscheidungen vom 19. Dezember 2019 und vom 2. April 2020 hat der EuGH seine Rechtsprechung zu lebensversicherungsrechtlichen Widersprüchen weiter präzisiert. Der EuGH hat bei dieser Gelegenheit zu den diversen Ansätzen, das „ewige“ Widerspruchsrecht zu begrenzen, Stellung genommen. Dabei zeigt er sich deutlich milder als der BGH und lässt einfache Belehrungsfehler nicht ausreichen, um ein „ewiges“ Widerspruchsrecht zu begründen.
Die Entscheidungen im Überblick – Was sagt der EuGH?
Im Kern hat der EuGH entschieden, dass nicht alle Fehler einer Widerspruchsbelehrung zwingend zu einem ewigen Widerspruchsrecht führen. Der EuGH differenziert vielmehr zwischen mangelhafter Information einerseits und gänzlich fehlender Information andererseits. Dabei hält der EuGH ein ewiges Widerspruchsrecht für unverhältnismäßig, wenn dem Versicherungsnehmer trotz einer bloß formunwirksamen Belehrung gleichwohl die Möglichkeit offenstand, sich unter vergleichbaren Voraussetzungen vom Vertrag zu lösen.
Hintergrund der Verfahren:
Das Europäische Recht gewährt den Versicherungsnehmern bei Abschluss einer Lebensversicherungspolice seit 1990 ein Widerspruchsrecht. Bei Umsetzung dieses Widerspruchsrechts hatte der deutsche Gesetzgeber zugleich festgeschrieben, dass das Widerspruchsrecht – abhängig von der Art des Vertragsschlusses – spätestens ein Monat beziehungsweise ein Jahr nach Einzahlung der Versicherungsprämie erlischt. Darauf, ob die Belehrung über das Widerspruchsrecht zutreffend war oder überhaupt erfolgte, kam es nicht an. In seiner Grundsatzentscheidung aus dem Jahr 2013 in der Sache Endress hatte der EuGH entschieden, dass diese zeitliche Einschränkung europarechtswidrig sei und dem Versicherungsnehmer bei unzutreffender Belehrung grundsätzlich ein „ewiges“ Widerspruchsrecht zustehe.
Aufnahme der Endress Entscheidung in Deutschland
Die Endress-Entscheidung hat in Deutschland eine regelrechte Widerspruchswelle ausgelöst, nicht zuletzt auch deswegen, weil deutsche Gerichte strenge Anforderungen an eine ordnungsgemäße Belehrung stellen. Unzählige Widersprüche beschäftigen seitdem die Versicherungsbranche und die Gerichte. Anders als beim Widerruf von Immobiliar-Verbraucherdarlehensverträgen, für die der deutsche Gesetzgeber im Jahr 2016 aus Gründen der Rechtssicherheit eine Höchstfrist eingeführt hat, ist er im Versicherungsrecht untätig geblieben. Unter den Instanzgerichten lässt sich indes eine steigende Tendenz beobachten, Widersprüche als rechtsmissbräuchlich oder treuwidrig zurückzuweisen. Der BGH sieht dies als tatrichterliche Würdigung an und billigt diese Schranken stillschweigend.
Einordnung der jüngsten Entscheidungen des EuGH
In seinen beiden Entscheidungen vom 19. Dezember 2019 und vom 2. April 2020 bestätigt der EuGH in vielerlei Hinsicht die in seinem Endress-Urteil bereits angelegten und von der deutschen Rechtsprechung im Anschluss fortentwickelten Vorgaben. Dazu zählt etwa die Aussage, dass ein Widerspruch auch dann möglich sein soll, wenn der Versicherungsnehmer nachträglich von seinem Widerspruchsrecht erfahren hat.
Der EuGH hat aber auch neue Impulse gesetzt. Aus deutscher Perspektive sind dabei vor allem drei Aussagen von Bedeutung:
- Erstens hat der EuGH die Wertung der deutschen Gerichte gebilligt, dass rechtsmissbräuchliches Verhalten einem Widerspruch entgegenstehen kann.
- Zweitens hält der EuGH ein ewiges Widerspruchsrecht auch dann für unverhältnismäßig, wenn dem Versicherungsnehmer trotz einer bloß formunwirksamen Belehrung gleichwohl die Möglichkeit offenstand, sich unter vergleichbaren Voraussetzungen vom Vertrag zu lösen. Die deutschen Gerichte messen der Kausalität einer unzureichenden Belehrung für den unterbliebenen Widerruf bislang keine Bedeutung zu und sehen auch geringe Fehler in der Belehrung als erheblich an.
- Und drittens hat der EuGH auch dem Gesetzgeber den Weg geebnet, zumindest einen Teil der Widerspruchsflut einzudämmen. Namentlich soll es zulässig sein, den Widerspruch gegen einen bereits beendeten Vertrag anders zu behandeln als einen Widerspruch gegen einen laufenden Versicherungsvertrag.
Fazit
Die beiden Entscheidungen des EuGH bestätigen, dass selbst das „ewige“ Widerspruchsrecht gewissen Grenzen unterliegt. Hierzu hat der EuGH den Gerichten wie auch dem Gesetzgeber Instrumente an die Hand gegeben, die Widerspruchsflut zumindest teilweise einzugrenzen. Es wird spannend zu sehen, ob sie diese Möglichkeiten nutzen.