von Frank Grell, Stefan Patzer, Dr. Marco Grotenrath

Der Bundesgerichtshof (BGH) hat mit Urteil vom 18. November 2020 (IV ZR 217/19) entschieden, dass Ansprüche gegen GmbH-Geschäftsführer auf Ersatz von Zahlungen, die nach Insolvenzreife vorgenommen wurden, vom Versicherungsschutz der D&O-Versicherung umfasst sind. Mehrere Oberlandesgerichte hatten dies zuletzt noch anders beurteilt. In der Praxis hatte dies zu einer erheblichen Unsicherheit geführt, nicht zuletzt mit Blick auf die infolge der COVID-19-Pandemie vorübergehend geänderten Insolvenzantragspflichten.

Hintergrund der Entscheidung

Gerät ein Unternehmen in die Krise, sehen sich die Geschäftsleiter einer Vielzahl an unterschiedlichen Pflichten ausgesetzt. Das vielleicht größte (persönliche) Haftungsrisiko folgt aus dem Verbot, nach Eintritt der Insolvenzreife noch Zahlungen vorzunehmen, soweit diese nicht mit der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters vereinbar sind. Verstößt der Geschäftsleiter dagegen, hat er der Gesellschaft diese Zahlungen nach § 15b Abs. 4 S. 1 InsO (früher § 64 S. 1 GmbHG) aus seinem persönlichen Vermögen zu erstatten, und zwar im Grundsatz in voller Höhe und unabhängig davon, ob der Zahlung ein angemessener Gegenwert gegenüberstand. Gleiches gilt für die Organe anderer Handels- und Kapitalgesellschaften. Versäumt ein Geschäftsleiter, rechtzeitig einen Insolvenzantrag zu stellen, drohen daher nicht nur strafrechtliche Konsequenzen, sondern es können sich binnen kürzester Zeit auch beträchtliche zivilrechtliche Haftungsansprüche aufsummieren.

Die praktische Relevanz der Frage, ob Verstöße gegen § 15b GmbHG (und vergleichbare Vorschriften) vom Versicherungsschutz einer D&O-Versicherung umfasst sind, liegt somit auf der Hand, und zwar gleich in doppelter Hinsicht: Für die betroffenen Geschäftsführer geht es häufig um ihre persönliche Existenz, für die im Nachgang tätigen Insolvenzverwalter darum, ob Ihnen ein solventer Haftungsschuldner gegenübersteht. Umso erstaunlicher ist es, dass die Frage bislang noch nicht höchstrichterlich entschieden, sondern in der obergerichtlichen Rechtsprechung und Literatur gerade höchst umstritten war.

Der bisherige Meinungsstand

In rechtlicher Hinsicht kommt es darauf an, ob der Anspruch aus § 15b InsO (bzw. der Vorgängernorm des § 64 S. 1 GmbHG) einen „gesetzlichen Haftpflichtanspruch“ im Sinne von Ziffer 1.1 der Allgemeinen Versicherungsbedingungen für die Vermögensschaden-Haftpflichtversicherung von Unternehmensleitern und Leitenden Angestellten (ULLA) – kurz D&O-Versicherung – darstellt.

  • Mehrere Oberlandesgerichte – darunter besonders vehement das Oberlandesgericht Düsseldorf – hatten dies verneint. Bei Ansprüchen nach § 64 S. 1 GmbHG handele es sich um einen „Ersatzanspruch eigener Art“ und damit gerade nicht um einen „gesetzlichen Haftpflichtanspruch“ auf Schadensersatz (u.a. OLG Celle, Beschluss vom 1. April 2016 – 8 W 20/16, BeckRS 2016, 125428; OLG Düsseldorf, Urteil vom 20. Juli 2018 – I-4 U 93/16, NZI 2018, 758; Urteil vom 26. Juni 2020 – 4 U 134/18, BeckRS 2020, 16192). Auch das OLG Frankfurt am Main, die Vorinstanz in dem vom BGH entschiedenen Fall, hatte sich dieser Auffassung angeschlossen.
  • In der einschlägigen Literatur war diese Rechtsprechung auf weitverbreitete Kritik gestoßen. Denn häufig erfüllt ein Verstoß gegen § 64 S. 1 GmbHG zugleich andere – deliktische – Haftungstatbestände und ist damit wieder von der D&O-Versicherung gedeckt. Dies führte zu erheblicher Rechtsunsicherheit für alle Beteiligten und aus Sicht der Praxis zu unnötigen Deckungslücken.

Vor diesem Hintergrund waren die D&O-Versicherer zunehmend dazu übergegangen, in Neuverträgen Insolvenzverschleppungsansprüche ausdrücklich mitzuversichern und auch bei Altverträgen auf Nachfrage entsprechende Klarstellungen vorzunehmen. In bereits eingetretenen Haftungsfällen, in denen es an einer solchen Ergänzung fehlte, haben die D&O-Versicherer zuletzt aber auch häufiger eine Deckung abgelehnt.

BGH: Schutzinteresse der Versicherten maßgeblich – nicht Dogmatik der Haftungsnorm

Der BGH hat sich nun gegen die obergerichtliche Rechtsprechung gewendet und entschieden, dass Ansprüche nach § 64 S. 1 GmbHG grundsätzlich von D&O-Versicherungen gedeckt sind. Anders als die Instanzgerichte stellt der BGH nicht auf die tatsächliche rechtsdogmatische Einordnung der Haftungsnorm ab, sondern auf das Schutzinteresse und den Verständnishorizont des Versicherten.

Die Richter in Karlsruhe bestätigen zwar, dass es sich bei § 64 S. 1 GmbHG nicht um eine Deliktsnorm, sondern einen „Ersatzanspruch eigener Art“ handelt. Darauf kommt es nach ihrer Auffassung indes nicht an, weil man eine solch komplexe rechtsdogmatische Einordung und das darauf gestützte Verständnis der Versicherungsbedingungen vom Versicherten nicht erwarten könne. Vielmehr gehe der durchschnittliche Geschäftsleiter, der zwar geschäftserfahren, aber juristisch oder versicherungsrechtlich nicht vorgebildet sei, davon aus, dass der Anspruch aus § 64 S. 1 GmbHG von der D&O-Deckung umfasst sei. Zudem entspreche eine Einbeziehung auch dem für den Versicherten erkennbaren Zweck des Versicherungsvertrags. Dieser schütze primär die Vermögensinteressen des Versicherten, der erwarte, dass die Versicherung ihn vor Vermögenseinbußen durch Schadensersatzforderungen schütze. Dies gelte gerade auch für das bedeutende und potenziell existenzvernichtende Haftungsrisiko aus § 64 S. 1 GmbHG.

Einordnung und Ausblick

Gerade noch rechtzeitig vor dem Auslaufen der wegen COVID-19 geänderten Insolvenzantragspflichten und der anschließend weithin erwarteten Insolvenzwelle hat der Bundesgerichtshof in einer Grundsatzentscheidung für Klarheit gesorgt, dass Ansprüche nach § 64 S. 1 GmbHG regelmäßig von D&O-Versicherungen gedeckt sind; für Ansprüche aus § 15b Abs. 4 S. 1 InsO wird das erst recht gelten. Das Urteil schafft damit Rechtssicherheit für alle Beteiligten und ist allein schon vor diesem Hintergrund zu begrüßen. Zugleich hat der BGH aber auch noch einmal daran erinnert, dass die Formulierung im Vertrag darüber entscheidet, welche Versicherungsleistung erfasst ist und welche nicht. Einen Blick in das konkrete Vertragswerk erspart die Entscheidung des BGH daher nicht.